Impuls für den Monat Juni: Köstlicher Augenblick

Wenn wir uns im Laufe unseres Lebens darin üben, die Geschenke, die das Leben für uns bereithält, tief in uns aufzunehmen, werden wir immer mehr imstande sein, jeden Augenblick auszukosten – bis zur letzten Minute. 

Ein alter Zenmönch fühlt seinen Tod nahen und sagt seinen Novizen, dass er in den nächsten Stunden sterben wird. Sie sammeln sich um sein Lager, nur sein Lieblingsschüler geht auf den Markt, um einen Kuchen zu holen. Er weiß, dass sein Meister den besonders liebt. Als er in die Zelle zurückkommt, schlägt der Mönch die Augen auf: „Endlich!“ Er lässt sich ein Stück reichen und verzehrt es mit großem Genuss. Die Schüler sind verwirrt. Und einer fragt: „Meister, was willst Du uns noch sagen? Was ist Deine wichtigste Lehre?“ Der Alte macht die Augen noch einmal auf und sagt, jedes Wort betonend: „Dieser Kuchen schmeckt vorzüglich. (Zen-Geschichte aus Japan)

Der alte Zen-Meister lehrt seine Jünger nicht, was sie alles beachten sollen, damit sie gute Mönche werden. Er genießt im letzten Augenblick seines Lebens den Kuchen. Der Tod soll uns einladen, das Leben zu genießen. Das bedeutet nicht, dass wir möglichst viel Vergnügen erleben müssen. Vielmehr bedeutet es, jeden Augenblick bewusst zu erleben und zu genießen. Wenn du ganz in dem bist, was du gerade tust, dann schmeckt das Leben vorzüglich. Dann hast du in diesem Augenblick alles, was du brauchst. Du lebst wirklich. Das Genießen des Kuchen ist Ausdruck dieser Haltung. Ich genieße jetzt in diesem Augenblick, was Gott mir gerade schenkt: einen guten Kuchen, ein gutes Gespräch, eine Begegnung, die mein Herz erfreut. Der Tod will uns einladen, wirklich zu leben. Und zum Leben gehört auch das Genießen: dankbar genießen, was Gott mir gerade in diesem Augenblick schenkt.

Anselm Grün

(Aus: Der zarte Hauch des Augenblicks
Worte zum Glücklichsein
Hrsg. von German Neundorfer
© Verlag Herder, Freiburg i. Br., 2021)