Wir gehen nicht weg. Wir ziehen los.

Hinter dem Leipziger Oratorium des Heiligen Philipp Neri liegen aufreibende Monate. Wie blicken die drei Oratorianer auf ihr Wirken im Leipziger Westen? Was führte zur Entscheidung, die neu gegründete Pfarrei aufzugeben? Was werden sie zukünftig tun? Und vor allem: Wie geht es weiter mit unserer Pfarrei St. Philipp Neri?
Ein Gespräch mit Thomas Bohne CO, Eberhard Thieme CO und Michael Jäger CO.

Seit 1930 prägt das Oratorium die katholischen Gemeinden im Leipziger Westen. Was war der Unterschied zu einer »normalen« Gemeinde?
Eberhard Thieme: Vieles lief wie in anderen Pfarrgemeinden auch, schließlich sind im Grunde überall dieselben kirchlichen Verwaltungsakte zu absolvieren. Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings, dass ich als Pfarrer nie allein war und es immer die oratorianische Gemeinschaft im Hintergrund gab.
Thomes Bohne: Oratorianer können vom Bischof nicht versetzt werden, deshalb gab es lange Zeit eine personelle Kontinuität, die eine wichtige Grundlage für unsere Gemeindearbeit war und auch größere Projekte ermöglicht hat, wie zum Beispiel unser Kinder-Musical »Bogabunda« für den
Katholikentag 1994 in Dresden.
Michael Jäger: Formal waren wir zwar Teil des vorgegebenen Kirchensystems, inhaltlich aber waren wir in der Gestaltung freier. So konnten wir die Beziehungen familiärer und menschennaher gestalten als das gemeinhin möglich ist. Es gab immer einen regen Austausch mit der Gemeinde und den Mitbrüdern.
Ungewöhnlich war auch, dass der Amtsvorgänger immer noch präsent war, was es nicht immer einfach gemacht hat.
T. B.: Berufliches und Privates waren bei den Oratorianern wie in einem Familienbetrieb immer schwer zu trennen. Das hat auch Nachteile. Wichtig waren uns immer die Gemeinschaftszeiten, wo es mal nicht um Dienstliches ging. Das Oratorium des Heiligen Philipp Neri ist nur eine Randnotiz in der Kirchengeschichte, aber eine wichtige – so meinte im übrigen unser Leipziger Gründervater Theo Gunkel.

Aber wie kam es dann zu dem für viele Gemeindemitglieder überraschenden Rückzug der Oratorianer aus der Pfarrseelsorge nur ein Jahr nach der Gründung der neuen Pfarrei?
T. B.: Das hat eine lange Vorgeschichte und hängt im Wesentlichen mit den Personalwechseln im Bistum Dresden-Meißen zusammen. Das Oratorium ist eine apostolische Gemeinschaft päpstlichen Rechts und unterliegt damit nicht wie sonst üblich der Verfügungsgewalt des Bischofes, sondern untersteht einem päpstlichen Delegaten. Damit haben wir viele Rechte eines Bistums, zum Beispiel dürfen wir Rechtsgeschäfte eigenständig durchführen. Durch diese Sonderrolle passen wir nicht in die normalen kirchlichen Hierarchien. Das ging lange gut, wir haben jahrzehntelang vertrauensvoll mit dem Bistum zusammen gearbeitet, aber nun hat sich dessen Politik leider geändert.
E.T.: So gestaltete sich auch der Weg zu unserem neuen Seelsorgevertrag mit dem Bistum, der überhaupt die Voraussetzung war für die Pfarreineugründung, schon sehr schwierig. Hauptsächlich aufgrund von Personalfragen, wo der Bischof eine andere Auffassung hatte als wir Oratorianer. Schließlich kam er aber doch nach langen, zähen Verhandlungen zu Stande.
M.J.: Es gab schon seit rund zehn Jahren Personalprobleme. Wir haben wiederholt beim Bistum um die Einstellung eines Gemeindereferenten oder einer -referentin gebeten, wurden aber immer nur vertröstet. Mittlerweile haben wir in unserem Pfarrgebiet 6.500 Katholiken, die wir weiterhin mit nur drei Personalstellen betreuen sollen. Das ist einfach nicht zu schaffen und geht auf Dauer auf Kosten der eigenen Kraft.
T. B.: Generell ist es so, dass das Bistum die Stellen der Priester- und Gemeindereferenten/-referentinnen finanziert. Da sind im aktuellen Stellenplan für St. Philipp Neri zwei Priester und ein Gemeindereferent oder -referentin vorgesehen. Zusätzliche Honorarkräfte muss die Pfarrei selbst finanzieren.

Aber schließlich wurde der Vertrag mit dem Bistum am 16. April 2019 zwei Monate vor der Pfarreigründung doch geschlossen. Was aber war dann das auslösende Moment für die Entscheidung, das mühsam Erkämpfte jetzt aufzugeben?
T. B.: Wir hatten dann kurz nach der Unterzeichnung des Seelsorgevertrages zwei sehr schwierige Personalsachen zu bewältigen. So kam einmal die überraschende Forderung des Bistums, dass wir uns von unserem Mitarbeiter und Mitbruder aufgrund der Vermutung einer problematischen Neigung trennen sollten. Wir wollten dieser Weisung folgen, aber den Abschied so sanft wie möglich gestalten. Das ging schief, weil die vertrauliche Präventionsmaßnahme öffentlich wurde. Und aus der Vermutung einer Neigung wurde in der öffentlichen Meinung eine pädophile Tat und aus dem vertraulichen Umgang damit eine Vertuschung. Bei der zweiten Personalsache ging es um eine Mitarbeiterin, bei der sich Gründe für einen Aufhebungsvertrag zeigten – diese reichten bis ins Jahr 2018 zurück. Schließlich mündete alles in der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses in gegenseitigem Einverständnis und unter maßgeblicher Mitwirkung des Bistums, dafür sind wir sehr dankbar. Beide Personalsachen haben in der Gemeinde hohe Wellen geschlagen. Einige Eltern haben sogar mit ihren Kindern die Pfarrei verlassen. Da gibt es nach wie vor Wunden und Verletzungen – auch auf unserer Seite. Durch den Wegfall der beiden in der Kinder und Jugendarbeit tätigen Mitarbeiter, haben wir dann deren Vertretung übernommen. Vieles konnte in diesem Bereich letztlich weitergeführt werden.
M.J.: Im Grunde wurden wir dafür bestraft, dass wir die beiden Mitarbeitenden eigenverantwortlich eingesetzt hatten, weil uns das Bistum personell am langen Arm hat verhungern lassen. Eigentlich wäre es die Aufgabe des Bistums gewesen, für geeignetes Personal zu sorgen. Stattdessen wurde die
Kaplanstelle im Laufe der Jahre sukzessive ausgehöhlt. An sich sind solche Personalvorgänge aber nichts Ungewöhnliches und kommen in vielen Pfarreien vor, auch wenn die Häufung natürlich ungünstig war. Generell sieht das Bistum nicht, was wir mit unseren begrenzten Mitteln dennoch erreicht haben, sondern schaut nur auf das, was eben nicht klappt.
E.T.: Wir spüren ein tiefes Misstrauen von seiten des Bistums gegenüber unserer Arbeit. Da hieß es dann, wenn die Oratorianer ihre Probleme nicht allein lösen können, sollten sie lieber ganz weggehen aus der Pfarrseelsorge.
T. B.: Auch mit der seit langem anstehenden Sanierung des Lindenauer Pfarrhauses wurden wir allein gelassen. Andere Gemeinden haben dafür einen Bau- oder Verwaltungsleiter zur Seite gestellt bekommen. Wir sollten alles selbst regeln, dabei sind zwei von uns bereits über 60. Hinzu kamen
mehrmals Beschwerden vom Bistum, weil wir zum Beispiel zur Überbrückung der Personalnot eine evangelische Katechetin für den Religionsunterricht auf Honorarbasis beschäftigt hatten oder weil unsere Taufbücher nicht gebunden waren. Als dann endgültig klar war, dass auch zukünftig keine personelle Unterstützung vom Bistum kommen wird, haben wir uns entschieden, die Flucht nach vorn anzutreten. Denn wir wollten uns nicht vom Bischof einen Platz zuweisen lassen und haben unser eigenes Konzept formuliert, auf welches das Bistum überraschenderweise schnell eingegangen ist.

Und nun? Welche Pläne haben die Leipziger Oratorianer?
T. B.: Wir gehen nicht weg, wir ziehen los. Wir lassen uns nicht vom Hof jagen, sondern suchen uns neue Ziele und Aufgaben. Wir hoffen, dass wir dadurch einen Neuanfang hinbekommen. Statt der Pfarreiseelsorge werden wir nun kategorial, also pfarreiübergreifend, in verschiedenen Bereichen tätig sein. Dafür pflegen wir weiterhin die vier Säulen, auf denen unsere bisherige Arbeit beruhte. Das sind die Heilige Schrift, die Einzelseelsorge, Kunst und Kultur als bevorzugtes Mittel und die Stadt Leipzig als primärer Ort unseres Wirkens – immer bezogen auf die Verkündigung der Botschaft Jesu. Darin liegt unsere Kernkompetenz. In der Pfarrei hat jedoch notgedrungen die administrative Arbeit immer den meisten Raum eingenommen. Dafür sind wir aber gar nicht ausgebildet.
M.J.: Wir sehen das nicht als Rückzug, sondern wollen Neues ausprobieren. Den Stein der Weisen haben freilich auch wir nicht. Das erfordert Mut und man bekommt durchaus auch Prügel dafür. Den anderen alteingesessenen Oratorien in Deutschland geht es übrigens nicht viel anders, alle haben mit Nachwuchssorgen zu kämpfen. Die oratorianischen Neugründungen hingegen haben eine deutlich konservative Ausrichtung.

Aber wie wird Ihre Arbeit in Zukunft konkret aussehen?
E.T.: Ich werde bei der Caritas Leipzig für die Seniorenseelsorge zuständig sein. Thomas wird die Gefängnis- und Flughafenseelsorge übernehmen.
T. B.: Und außerdem die Filmbesinnungstage in Schmochtitz gestalten und das Kino am Mittwoch begleiten. Darüber hinaus werden wir uns unsere eigenen Aufgaben suchen und uns auch weiterhin gegenseitig beruflich aushelfen. Aufgaben, über die wir nachdenken, sind zum Beispiel Exerzitien im Alltag zu gestalten, Bibelabende und oratorianische Kreise anbieten. Außerdem werden wir in verschiedenen Leipziger Gemeinden durch Vertretungsdienste präsent sein. Natürlich werden wir uns auch im Internet mit Hompage, den Sozialen Medien und unserem YouTube-Kanal eine eigene Präsenz schaffen. Und wer weiß, vielleicht gehen wir sogar auf Reisen.
M.J.: Bei mir ist der berufliche Weg noch unklar. Meine Stelle als Schulseelsorger läuft zum Herbst aus. Ich schaue gerade in viele Richtungen. Und natürlich braucht es auch einen neuen Ort, um den alten zu verlassen. Derzeit suchen wir einen zentrumsnahen Wohn- und Wirkungsort. Dort wollen wir an den Samstagabenden eine oratorianische Messe und andere Veranstaltungen anbieten.
T. B.: Wir haben übrigens immer schon kategorial gearbeitet, auch in Zeiten der Pfarrseelsorge – jeder auf seinem Gebiet.

Die katholische Kirche befindet sich im Umbruch, wenn nicht gar in einer institutionellen Krise. Zwar ist die Zahl der Gemeindemitglieder in den letzten zehn Jahren in Folge des Leipziger Bevölkerungswachstums wieder gestiegen, die Zahl der Gottesdienstbesucher und aktiven Gemeindemitglieder allerdings bleibt überschaubar. Wie kann Kirche noch Menschen
begeistern?
M.J.: Das Prinzip der Pfarrei, das ja aus dem Mittelalter stammt, hat vor allem in den Großstädten ausgedient. Es herrscht eine hohe Fluktuation, die Menschen kommen punktuell zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen, aber eine starke Bindung an die Institution Kirche gibt es kaum noch. Das wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Deshalb sollten wir als Geistliche zu den Menschen gehen statt darauf zu warten, dass die Menschen in die Kirche kommen. Aber nicht im missionarischen Sinn, dass man den Menschen Christus bringt, denn der ist immer schon da.
T. B.: Die Gemeinde versammelt sich in der Tat schon lange nicht mehr um den Altar. Die Gründerväter des Oratoriums riefen die liturgische Bewegung ins Leben, um die Menschen wieder zum Altar zu bringen, aber heute braucht es einen anderen Ansatz. Es kommen vielleicht sieben bis acht Prozent der Gemeindemitglieder noch regelmäßig zum Gottesdienst, die Kirche als sozialer Raum verliert zunehmend an Bedeutung. Als Angebots- oder Sinnraum sollte man sie aber nicht unterschätzen. So experimentieren wir damit, Gottesdienste und Lesungen auf unseren YouTube-Kanal zu stellen. Da gibt es durchaus Bedarf, gerade auch weil die traditionellen kirchlichen Bezüge abnehmen.
M.J.: Man muss eben auch mal was wagen und rausgehen aus der beschaulichen, abgezirkelten Gemeinde in Regionen, wo man erst mal nicht weiß, wen treffe ich denn da – sei es im Gefängnis, in der Schule oder im Altenheim. Wir wollen versuchen, mit den Menschen gemeinsam Schätze zu heben
durch die Heilige Schrift, durch Kunst und Kultur, durch Seelsorge.
E.T.: Unsere Vision ist, dass sich die Gemeinde in Zukunft wieder stärker um die Heilige Schrift versammelt, gemäß unserer oratorianischen Tradition. Schließlich unterscheidet das kirchliche Gruppen von allen anderen. Sonst mündet es schnell in Beliebigkeit. Es würde schon genügen, wenn man sich am Anfang eines jeden Treffens zehn Minuten mit der Bibel beschäftigen würde. Aber natürlich ist es bis dahin noch ein weiter Weg, für konservative Katholiken sind nach wie vor Altar und Messe entscheidend.

Was wollen Sie der Gemeinde und den künftig Verantwortlichn mit auf den Weg geben?
E.T.: Es wäre ein Gewinn, wenn der neue Pfarrer nicht klerikal auftreten würde, sondern gemeinsam mit den Leuten den Kurs der Gemeinde bestimmt. Ansonsten sollte die Gemeinde nicht an alten Zöpfen hängen, sondern bereit sein, gemeinsam mit dem neuen Team die Zukunft zu gestalten.
M.J.: Hört nicht auf, miteinander zu kommunizieren. Die vier Säulen sollten auch weiterhin als Grundlage der Arbeit dienen.
T. B.: Der Heilige Philipp Neri bleibt hier und wird auch nicht abgebaut. Der passt schon noch ein bisschen auf, schließlich hat sein Geist die Gemeinde geprägt. Ich bin zuversichtlich, dass es in seinem Geist weiter geht. Auch sollte man immer den Blick über den Tellerrand wagen und nicht nur die eigene kleine Gruppe sehen.

Wir haben auch das Bistum um eine Stellungsnahme zu den Ereignissen und zur Zukunft der Pfarrei gebeten. Bezüglich der bevorstehenden Veränderungen spricht Pressesprecher Michael Baudisch von einer großen Herausforderung, aber: »Wir vertrauen auch darauf, dass die Pfarrgemeinde dem Team mit offenen Armen und Geduld begegnet, und man so die Zäsur in der Geschichte der Pfarrei gut gemeinsam bewältigt.« Aufgabe sei weiterhin: »Bewährtes zu erkennen, wertzuschätzen und fortzuentwickeln, aber auch neue Akzentsetzungen zu ermöglichen. Dies wird, neben einem überzeugenden geistlichen Fundament und der Offenheit für die vor Ort gewachsene Spiritualität besonders auch kommunikative Fähigkeiten, die Bereitschaft zu einer transparenten Beteiligungskultur, aber auch Demut, Geduld und Konfliktfähigkeit erfordern.« Dabei besteht seitens des Bistums Klarheit darüber, »dass es insbesondere in der Anfangsphase eine enge Begleitung seitens der Hauptabteilung Personal des Ordinariats braucht, die auch ein externes Teamcoaching enthalten wird.«
Leider werden noch keine Namen genannt, aber nunmehr ist verbindlich festgelegt, dass das neue Pastoralteam am ersten Adventssonntag in der Pfarrei eingeführt wird: »Wir sind sehr dankbar, für diesen bedeutungsvollen Neustart kompetente Seelsorger und Seelsorgerinnen gewonnen zu haben.«

State buoni se potete – Seid gut wenn ihr könnt
Hl. Philipp Neri, 1515 – 1595, Gründer des Oratoriums

Das Interview führte Dörthe Gromes, Journalistin.
Kontakt: doerthegromes@web.de
Leipzig, im September 2020