Impuls für den Monat November

Für die Toten beten!?

„Wir kommen alle, alle in den Himmel“ lautet der Titel eines bekannten Liedes – aber stimmt das auch? Seit jeher gibt es in der katholischen Kirche das Bewusstsein, für die Verstorbenen zu bitten und zu beten, dass sie nach dem Tod zu Gott kommen und in Gottes Herrlichkeit leben können. Kein „Automatismus“ also, dass alle sowieso nach dem Tod in den „Himmel“ kommen? Wie können wir das verstehen und was kann es bedeuten oder bewirken, als Lebende für die Verstorbenen zu bitten und zu beten? Gerade im November, wenn die Kirche Allerheiligen und Allerseelen feiert,  die Gräber der Verstorbenen auf den Friedhöfen gesegnet werden und nach anderen Traditionen Volkstrauertag, Totensonntag bzw. Ewigkeitssonntag begangen werden, sind diese Fragen aktuell.

In diesem Zusammenhang ist mir das bekannte Gleichnis Jesu „Vom verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32) sehr ans Herz gewachsen: Neben dem jüngeren Sohn im Gleichnis, der, nachdem er sein Erbe durchgebracht hatte, sich besann und  reumütig heimging zum Haus des Vaters und dort mir Küssen, Kleidern und offenen Armen empfangen wurde, gibt es auch den älteren Sohn, der nicht verstehen kann, wieso der Vater für den Zurückgekehrten ein Festmahl gibt.

Für die Frage, was es bedeuten kann, für die Toten zu beten, ist für mich eine Beobachtung an dieser Erzählung wichtig geworden: Die offenkundige „Leerstelle“, der Teil der Erzählung, die gerade nicht erzählt wird: Wie werden sich die beiden Söhne, der jüngere und der ältere, beim Fest begegnen, wenn sie dort unweigerlich aufeinandertreffen? Und dazu gehört auch die Frage: Mit welchem Gesicht werden die beiden Söhne am Festmahl teilnehmen? Der eine vielleicht verschämt, voll Reue, der andere wütend verbissen, der die „Ungerechtigkeit“ des Vaters nicht verstehen kann. Möglicherweise gehen beide mit hängendem Kopf, den Blick zu Boden gerichtet. Werden die beiden Brüder aufschauen und sich in die Augen schauen können?

Diese nicht erzählte „Leerstelle“ des Gleichnisses steht für mich sinnbildlich für die Situation der Verstorbenen, derer, die „Heimkehren zum Vater“: Das himmlische Festmahl findet statt, die Einladung steht für alle, die Türen sind weit geöffnet – aber mit welchem Gesicht gehst du hin? Wirst du es aushalten, dich an die Tafel des himmlischen Hochzeitsmahls zu setzen, mit allen Wunden, Verwundungen und Kränkungen die das Leben hinterlassen hat und die man dir auch ansieht? Wird es auszuhalten sein, dass, weiterhin im Bild gesprochen, an der Festtafel „Opfer“ neben „Täter“ sitzen könnten?

Der Vater, das heißt Gott, kann in dieser Situation nur eines tun: Uns gut zureden, uns ermutigen. Aber er kann uns den Gang zum Festsaal nicht abnehmen. Den muss jeder selber gehen – egal ob freudig, voll Erwartung oder mit gesenktem Blick und hängendem Kopf. Möglicherweise gibt es auch Personen, die sich nie zum Fest trauen und in ihrer Einsamkeit vor der Tür verharren. Dass das ein inneres, „brennendes Gefühl“ ist, eingeladen zu sein, aber sich noch nicht hineinzutrauen, ist für mich nachvollziehbar (vgl. 1 Kor 3,15: Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.)

Ich glaube, für diesen Prozess der Läuterung braucht es neben dem Vater, der gut zuredet und die Türen und Arme weit offen hält, auch die Freunde und andere Personen, die unterstützen, wieder aufbauen und mich mitnehmen, damit beim Festmahl heilen und verheilen kann, was noch offen geblieben ist, auch wenn dabei Narben immer sichtbar bleiben werden. Ich hoffe, dass beide Brüder im Gleichnis, der jüngere und der ältere, noch Freunde haben am Hof des Vaters, die sie beim Gang zum Fest begleiten können und vielleicht das eine oder andere aufmunternde Wort sagen – und nichts anderes ist für mich das Gebet für unsere Verstorbenen. Ein Zeichen, dass die Solidarität und Beziehung zwischen den Menschen auch nach dem Tod nicht abbricht, sondern vielleicht gerade da noch ganz stark gebraucht wird.

Noch ein kleiner Zusatzgedanke:

Ich meine, was für die Verstorbenen gilt, gilt auch für die Lebenden… Auch in jedem Gottesdienst unserer Gemeinden, besonders in der Eucharistie, feiern wir schon im Hier und Jetzt „himmlisches Hochzeitsmahl“. Und auch für uns gilt schon heute die Frage: Mit welchem Gesicht gehst du zur Feier? Wer sind in unseren Gemeinden die „jüngeren Brüder“, die nach langen Umwegen im Leben den Weg zurück zum Glauben finden? Welche Unterstützung brauchen sie für ihren Weg? Wer sind in unseren Gemeinden die „älteren Brüder“, die den Vater „anklagen“ mit den Gedanken: „So viele Jahre schon diene ich dir, mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.“ (vgl. Lk 15,29) Wie viele „ältere Brüder“ gibt es bei uns, die gefühlt nicht das bekommen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht an Anerkennung, Aufmerksamkeit, Dank und Liebe?

Ein Prediger sagte einmal: „Man kann auf zweierlei Weise vor Gott weglaufen: unreligiös und religiös. Und die beiden Söhne stehen für beide Fluchtwege. Der religiöse Fluchtweg ist der: Ich tue alles für meinen Glauben. Alles. Und im Herzen wohnen Ärger, Neid, Bitterkeit, mindestens aber der Wunsch: Wenn ich so viel tue, dann muss Gott doch auch seinen Teil der Pflicht erfüllen… “

Für uns alle aber gilt: Die Tür zum Festmahl steht weit offen. Mitunter braucht es jedoch das aufmunternde Wort und Gebet der Freunde und Mitmenschen, den gesunkenen Kopf zu heben und den ersten Schritt hinein zu tun und bereit zu sein, mich von allen ansehen zu lassen, die schon dort sind und vom Vater in seiner Herzensgüte willkommen geheißen zu werden.

Vinzenz Hruschka

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